Sonja Anderegg von altra schaffhausen und Claudia Philippek, leitende Apothekerin Im Dorf, unterhalten sich über die Unterstützung von Mitmenschen mit Beeinträchtigung.
Claudia Philippek: Würden Sie sich und Ihre Tätigkeit bei altra schaffhausen kurz vorstellen?
Sonja Anderegg: Ich bin Mitglied der Geschäftsleitung und als agogische Leiterin vertrete ich die Anliegen der Klienten in der Geschäftsleitung, erarbeite Ideen und Grundlagen zur Umsetzung der agogischen Arbeit in der Institution und bin zuständig für das Einhalten der gesetzlichen Vorgaben. Die Klienten werden in der Werkstätte von Arbeitsagogen, im Wohnbereich von Sozialpädagogen sowie Psychiatrie Pflegefachfrauen/-männern betreut und die Lernenden von Berufsbildner begleitet. Alle begleiten ihre Klienten im Sinne ihres agogischen Auftrags mit lebenspraktischen Fähigkeiten und Sozialverhalten im Fokus.
Claudia Philippek: altra schaffhausen bietet auch betreutes Wohnen an. Wie darf man sich das vorstellen?
Sonja Anderegg: Das altra-Wohnen, das ich leite, verfügt über 60 Wohnungsplätze an drei Standorten. Der Grad der Betreuung nimmt von Ort zu Ort ab, beginnend mit einer 24-Stunden-Betreuung an der Nordstrasse, Teilzeitbetreuung der Zwei-Personenhaushalte an der Buchthalerstrasse bis hin zur eigenen Wohnung mit reduzierten fixen Betreuungszeiten in der Neustadt. Eine weitere Stufe ist das begleitete Wohnen in der eigenen Wohnung. Unser Wohnsystem ist so aufgebaut, dass ein Einstieg auf jeder Stufe möglich ist und man sich dann schrittweise in weniger betreutes Wohnen weiterentwickeln kann.
Claudia Philippek: Wie wird das finanziert?
Sonja Anderegg: Alle unsere Beschäftigten haben eine IV-Rente und deshalb das Recht, die Dienste einer Institution wie altra in Anspruch zu nehmen. Die altra hat für Wohnen und Tagesstruktur mit dem Kanton Schaffhausen eine Leistungsvereinbarung. Wir müssen unsere Betreuungsleistung ausweisen, diese Leistungen können mit dem Kanton abgerechnet werden. Etwas anders funktioniert es für Lernende. Während der Ausbildung zahlt die SVA einen Ausbildungsplatz und den Jugendlichen ein Taggeld. Falls nach abgeschlossener Ausbildung noch keine Anstellung möglich ist, kann eine IV-Rente beantragt werden. Im Bereich Wohnen bezahlt der Klient den ersten Teil, also die Grundtaxe, mit der
IV-Rente und je nach Vermögen wird der Rest selbst bezahlt oder aber die Ergänzungsleistungen kommen zum Einsatz. Die Betreuung pro Klient wird über Leistungsvereinbarung dem Kanton in Rechnung gestellt.
Claudia Philippek: altra bietet auch Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung an. Was für welche gibt es denn?
Sonja Anderegg: Neben Gärtnerei und Schreinerei haben wir die Industriemontage, die Elektromontage, eine mechanische Werkstätte, den Hauswirtschaftsbereich mit eigener Kantine, Technik und Unterhalt, die Lebensmittelabteilung, den Bio Bauernhof, den Gemüsebau und den Pharmabereich, wo wir für namhafte Pharmaunternehmen Produkte verpacken. Gerade letzteres ist eine hochkomplexe Aufgabe, die in Reinräumen mit Schutzbekleidungen unter strengen Hygienemassnahmen erledigt wird.
Claudia Philippek: Müssen Sie diese Aufträge denn selbstständig akquirieren?
Sonja Anderegg: Ja, wir haben dafür zwei Personen im Marketing. Wir wirtschaften auf einem Markt mit viel Konkurrenz, und weil wir lediglich für den Mehraufwand der Betreuung finanziert werden, sind wir auf solch spannende Aufträge mit genügend hoher Rendite angewiesen. Unser Branchenverband definiert es zudem als Teil unseres ethischen Verständnisses, dass wir Arbeiten nicht unter dem Wert eben dieser erledigen.
Claudia Philippek: Dann müssen Sie die erste Corona Welle auch auf dieser Ebene als Herausforderung erlebt haben.
Sonja Anderegg: Im Frühling schickten wir die Klienten zu ihrem Schutz nach Hause, die Produktion mussten wir mit wenigen Aushilfskräften erledigen, um sie in Zukunft nicht zu verlieren. Damit fehlte unser Hauptauftrag, sie zu beschäftigen. Und für sie ist es wichtig, zu arbeiten, gebraucht zu werden, die Wertschätzung und Arbeitsgemeinschaft zu erfahren. Arbeit sehen wir als Grundrecht und möchten einen Förderwert erzeugen. Für einige kann das Ziel eine Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt sein, andere bleiben bei uns, weil der geschützte Ort wichtig ist. Alle haben die Möglichkeiten an unseren Freizeitangeboten wie Sport, Singen, Malen oder Theater teilzunehmen. Wir wollen den Menschen einen Ort bieten, wo sie sein können, wie sie sind, und sie mit ihren Wünschen und Plänen angenommen und Teil von der Gesellschaft sind.
Claudia Philippek: Das finde ich sehr schön formuliert. Wir als Gesellschaft definieren uns stark über unsere Arbeit und jemanden davon auszuschliessen, grenzt schon an Stigmatisierung. Wie können wir Leute mit Beeinträchtigung in alltäglichen Situationen sonst unterstützen?
Sonja Anderegg: Sehr wichtig finde ich das Bewusstsein, dass niemand einfach nur beeinträchtigt ist. Menschen haben eine Beeinträchtigung. Mit diesem Verständnis sollten wir ihnen möglichst normal und respektvoll begegnen. Jeder Mensch hat eine angeborene Würde. Ein konkreteres Beispiel ist der Wert, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufzubauen. Wir erleben immer wieder, dass es Betroffenen dank einer vertrauensvollen Beziehung einfacher fällt, in Schwierigkeiten auf einen zuzugehen.
Claudia Philippek: Gibt es zum Schluss noch ein besonderes Erlebnis, das Sie mit uns teilen möchten? Sonja Anderegg: Etwas ganz Besonderes ist das jährliche altra-Spiel. Am letzten offiziellen Arbeitstag des Jahres führt die Theatergruppe ein Spiel im Stadttheater auf, und so lassen wir als grosse altra-Gemeinschaft das Jahr ausklingen. 2020 hat die Gruppe stattdessen einen Film gedreht, der in den Abteilungen zusammen angeschaut wurde. An diesem speziellen Erlebnis tauchen ungeahnte Talente
auf und das Gefühl der Zugehörigkeit wird gestärkt. Denn altra ist mehr als nur Arbeiten, sondern eine Gemeinschaft, an der man teilhaben kann und sich zugehörig fühlt.
Zur Person
Sonja Anderegg ist Mitglied der Geschäftsleitung von altra schaffhausen. Ursprünglich in der Psychiatrie tätig, leitet sie heute die Bereiche Integration, Wohnen und Beschäftigungsstätte und ist die Agogische Leiterin bei altra. Ausserdem ist sie Mitglied der Kommission Berufliche Integration des nationalen Branchenverband INSOS.
altra schaffhausen
Die Stiftung altra schaffhausen beschäftigt 600 Personen an sieben Standorten in Schaffhausen und Neuhausen und bietet 400 Menschen mit einer Beeinträchtigung eine geschützte Arbeitsstelle. 60 Personen nutzen ein Wohnangebot der altra und jährlich machen rund 50 Lernende eine IV-Ausbildung.