Antonia Trennheuser, leitende Apothekerin Zum Rüden, spricht mit dem Heimleiter und Gerontologen Daniel Gysin darüber, wie älteren Mitmenschen zu mehr Lebensqualität verholfen werden kann.
Antonia Trennheuser: Herr Gysin, Sie haben Gerontologie studiert. Können Sie kurz erläutern, was darunter zu verstehen ist und wie sich das Fach von der Geriatrie unterscheidet?
Daniel Gysin: Die Gerontologie ist die Wissenschaft des Alters beziehungs- weise des Alterns und beschäftigt sich mit der Frage, wie man erfolgreich alt wird. Unter Alter selbst ist der Prozess der psychologischen, bio- logischen und physiologischen Veränderungen aller Lebewesen zu verstehen. Im Unterschied zur Geriatrie, die sich mit Krankheitsbildern alter Menschen befasst, ist Gerontologie weiter gefasst und versucht interdisziplinärer auf das Thema Altern ein- zugehen. Am Beispiel von Spital und Heim lässt sich das gut demonstrieren: Im Spital versucht man, Patienten gesundzupflegen und ihnen mehr Jahre zu schenken. Im Heim hingegen liegt der Schwerpunkt auf der Lebensqualität der gegebenen Jahre. Ich beschreibe das gerne so, dass wir nicht mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben wollen.
Das Alter ist genauso eine Lebensphase wie es die Teenagerzeit oder die Familienzeit ist. Heute weiss man, dass die Entwicklung bis hin zum Ableben anhält. In der Lebensphase des Alters hat man lediglich andere Bedürfnisse als in jenen zuvor. Beispielsweise brauchen ältere Menschen mehr Berührung, insbesondere auch demenziell Erkrankte.
Antonia Trennheuser: Mit der erhöhten Lebenserwartung befinden sich immer mehr Menschen in dieser Lebensphase des Alters, wodurch soziokulturelle Wandlungen die Beziehungen zwischen den Generationen verändern. Welche Herausforderung sehen Sie diesbezüglich?
Daniel Gysin: Sie sprechen einen spannenden Punkt an. Meiner Meinung nach ist der Generationswechsel herausfordernd. Die Babyboomer werden älter und kommen nun mit dem Altern in Berührung, zumindest als Angehörige. Anders als die Generation vor ihnen, die an klarere Strukturen in der Gesellschaft, also Ehe, Autorität der Vorgesetzten oder der Kirche und Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern, gewöhnt waren und deswegen diese mehr als gegeben akzeptieren, kommt mit den Babyboomern eine Generation ins Heim, die stärker an sich selbst orientiert ist und ihre Individualität ausleben will. Veranschaulichen kann man das daran, dass ein einzelnes Menu nicht mehr genügt. Die Ansprüche werden aber von den Angehörigen erhoben: «Mama mag das doch gar nicht». Dieser Satz illustriert das Kernproblem: Man meint zu wissen, was gut sei für die Alten. Auch wenn es nicht neu ist, finde ich es heikel. Oft wird vergessen, die Betroffenen selbst zu fragen und ihre Antwort dann auch als solche zu akzeptieren.
Eine weitere Herausforderung bringt die Globalisierung mit sich. Altwerden ist Sache der Kultur. Wir haben immer mehr Kulturen in der Schweiz und wir müssen anerkennen, dass ein Muslim nicht gleich altert wie ein Christ oder ein Südländer nicht gleich wie ein Schweizer. Damit meine ich, dass ein Mensch je nach Kultur, Herkunft und Religion andere Bedürfnisse hat im Alter. Es gibt sogar bereits Alterszentren, die sich auf die Wünsche einer Bevölkerungsgruppe ausrichten, um ihnen mehr Lebensqualität zu bieten. Wir müssen uns als Gesellschaft damit auseinandersetzen, wie wir dieser Diversität gerecht werden.
Antonia Trennheuser: Was würden Sie sich denn wünschen, wie wir auf diesen Wandel reagieren?
Daniel Gysin: Es sollte ermöglicht werden, sich an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Wir sollten lernen, uns ins Gegenüber hineinzuversetzen und deren Beweggründe versuchen zu verstehen. Wieso wollen viele der Alten beispielsweise nicht ins Heim? Einerseits liegt es sicher daran, dass das Heim früher als Asyl oft eher weg von der Gesellschaft gebaut wurde. Der Einzug ins Heim ist also für viele ein grosser Schritt. Deswegen sollten wir die Grenzen zwischen Heim, Pflege zuhause und Spitex immer mehr verschwimmen lassen, die Hürden herabsetzen und so einen Mehrwert, der individuell auf sie zugeschnitten ist, bieten.
Antonia Trennheuser: Welchen Dienst könnte denn die Apotheke für unsere Ältesten erweisen?
Daniel Gysin: Aus meiner Sicht liegt eine besondere Stärke der Apotheke darin, dass sie den Menschen Wertschätzung entgegenbringt und sie ernst nimmt. Ihnen zuhört und sich Zeit für sie nimmt.
Antonia Trennheuser: Dass ich mir Zeit für die Menschen nehmen kann, ist, was ich am Beruf der Apothekerin so schätze. Das stärkt die Beziehung zwischen Apotheke und Anwohner und lässt uns ihre Anliegen verstehen. Beispielsweise wird unser kostenloser Heimlieferservice sehr geschätzt, insbesondere natürlich auch in Notfällen. Ein Service, der auch für Alterszentren bei ungeplantem oder akut benötigtem Bedarf an Arzneimittel sehr wertvoll sein kann.
Zur Person
Bereits als Pfleger im Spital kümmerte sich Daniel Gysin um die Menschen. Nach einem Studium in Gerontologie und Weiterbildung zum Heimleiter ist er heute seit 2002 Heimleiter des Alters- und Pflegeheims in Beringen. Seit 2015 befasst er sich zudem intensiver mit der Lebensqualität der Bewohner – auch aus wissenschaftlicher Sicht.