Es ist noch keine drei Monate her, als sie von ihrer Mutter Abschied nehmen musste. Eigentlich zum zweiten Mal und definitiv. Tränen kullern über ihre Wangen. Beim ersten Mal kam der Abschied schleichend.
Ihre Mutter Hedwig war ein Lebemensch. Sie genoss ihr Leben, reiste gerne mit der Bahn durch die Schweiz, traf Bekannte aus ihrer Jugendzeit im Glarnerland oder besuchte allerlei Veranstaltungen. Auch war sie eine hervorragende Gastgeberin. Die beiden Töchter mit ihren Familien trafen sich regelmässig bei ihr im Haus mit dem gepflegten Garten. Und trotz der vielen Treffen kann Hanna heute nicht genau sagen, wann es mit den Gedächtnislücken bei ihrer Mutter anfing. Klar fragte sie öfters zweimal dasselbe oder vergass, wo sie ihre Schlüssel hingelegt hatte. Hedwig organisierte sich so gut, dass sie ihre Vergesslichkeit über längere Zeit kaschieren konnte. Sie führte eine Agenda und schrieb alle Adressen und Telefonnummern auf. Dieses rote Büchlein trug sie immer bei sich.
An einem Abend im Oktober bekam Hanna dann den Anruf. Ein Bahnbeamter erzählte, dass er ihre Mutter in den Zug Richtung Schaffhausen begleitet habe, nachdem sie auf dem Hauptbahnhof Zürich hilflos umherirrte und nicht wusste, welchen Zug sie nehmen sollte. In Hedwigs rotem Büchlein habe er ihre Wohnadresse gefunden und auch die Telefonnummer von Hanna. Sie möge doch ihre Mutter am Bahnhof abholen. Nach einem Moment des Nachdenkens verliess sie eilends das Haus und fuhr zum Bahnhof. «Mutter, Mutter!», rief sie, als sie Hedwig aussteigen sah. «Mensch Hanna, was ist denn passiert, dass du mich abholen kommst?» Für Hedwig schien die Welt in Ordnung. Sie konnte sich nicht an die Probleme am Hauptbahnhof und den hilfsbereiten Bahnbeamten erinnern.
Nach einer schlaflosen Nacht und einem längeren Gespräch mit ihrer Schwester vereinbarte sie für Hedwig einen Termin beim Hausarzt. Gab es ein ernst zu nehmendes gesundheitliches Problem? Nach einigen Untersuchungen und Tests stellte der Arzt die Diagnose: Demenz.
Menschen mit beginnender Demenz haben Mühe mit dem Kurzzeitgedächtnis. Sie vergessen Termine, die sie am Vortag vereinbart haben, oder verlegen Dinge. Manchmal überspielen die Betroffenen ihre Vergesslichkeit oder machen falsche Anschuldigungen. So ist ein Portemonnaie nicht verlegt, sondern entwendet. Verunsichert durch die unerklärlichen Veränderungen, schämen sie sich teilweise auch für ihre Vergesslichkeit. Weitere Anzeichen für eine beginnende Demenzerkrankung können Persönlichkeitsveränderungen wie übertriebenes Misstrauen und wahnhafte Vorstellungen oder eine nachlassende Orientierungsfähigkeit, auch in vertrauter Umgebung, sein.
Hedwig stellte das Reisen ein, aus Furcht nicht mehr heimzufinden, pflegte ihren geliebten Garten nicht mehr und isolierte sich immer mehr. Ihre Töchter unterstützten sie, wo immer möglich. Doch die scheinbar verloren gegangene Lebensfreude von Hedwig beschäftigte sie. Beim Kaffeekränzchen mit Hanna kramte Hedwig eines Tages einen Zeitungsausschnitt über die Eröffnung einer Einrichtung für Menschen mit Demenz hervor. «Es ist wohl besser, ich gehe dahin», meinte sie gefasst und ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
In diesem geschützten Rahmen und der Gemeinschaft ihrer neuen Familie lebte Hedwig anfänglich fast wieder etwas auf. Doch bald schritt ihre Krankheit weiter voran und der Zustand verschlechterte sich zusehends. Sie sass stundenlang in ihrem Sessel, fühlte weder Hunger noch Durst. Ihre Familie erkannte sie bald nicht mehr. Hanna kann noch heute nicht schildern, was in ihr vorgegangen ist, als ihre Mutter fragte: «Sind Sie meine Tochter?» Hanna beschreibt das Erlebte so: «Man verliert die Mutter jeden Tag ein bisschen mehr und kann nichts dagegen tun. Man muss das aushalten und ertragen.» Damals habe sie das erste Mal Abschied von ihr genommen.
Hanna hat sich diese Frage schon oft gestellt. Ausschliessen kann dies niemand. Während der Erkrankung ihrer Mutter hat sie sich wertvolle Informationen eingeholt. Sie treibt regelmässig Sport und achtet besser auf ihre Ernährung. Ihr Hausarzt hat die Geschichte ihrer Mutter miterlebt. Bei den regelmässigen Konsultationen führt er die vorgegebenen Tests zur Früherkennung durch. Er ermutigt sie, zuversichtlich zu sein, denn die Forschung mache gerade in diesem Bereich gute Fortschritte. Dies beruhigt Hanna und schafft Vertrauen.
Am Anfang der Krankheit sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört, im weiteren Verlauf verschwinden auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses. Die Betroffenen verlieren so mehr und mehr die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Eine Demenz ist jedoch weitaus mehr als eine Gedächtnisstörung. In ihrem Verlauf kommt es auch zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der Sprache, des Auffassungs- und Denkvermögens sowie der Orientierung. Somit erschüttert eine Demenzerkrankung das ganze Sein des Menschen – die Wahrnehmung, das Verhalten und das Erleben.
Für Demenzerkrankungen wird eine Vielzahl verschiedener Ursachen beschrieben. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen primären und sekundären Formen der Demenz. Sekundäre Demenzen sind Folgeerscheinungen anderer Grunderkrankungen, wie Stoffwechselerkrankungen, Vitaminmangelzuständen und chronischen Vergiftungserscheinungen durch Alkohol oder Medikamente. Diese Grunderkrankungen sind behandelbar und zum Teil sogar heilbar. Somit ist häufig eine Rückbildung der Symptome der Demenz möglich. Zur Abgrenzung und rechtzeitigen Behandlung dieser Demenzerkrankungen ist eine frühzeitige Diagnose besonders wichtig.