Richtig atmen kann jeder – oder etwa nicht? Atemtherapie zeigt, wie eng Atmung, Wohlbefinden und Gesundheit miteinander verbunden sind. Madeleine Mathei ist Atemtherapeutin und praktiziert in Neuhausen am Rheinfall. Im Interview erklärt sie, warum die meisten Menschen zu viel atmen, weshalb die Nase so wichtig ist und wie bewusste Atmung Körper und Geist ins Gleichgewicht bringt.
Zur PersonMadeleine Mathei ist diplomierte Atemtherapeutin und arbeitet in eigener Praxis in Neuhausen am Rheinfall. Neben Einzeltherapien leitet sie auch Gruppenkurse, unter anderem in Zusammenarbeit mit der Lungenliga. |
Ich habe ursprünglich als Psychiatriekrankenschwester gearbeitet. Dort wurde mir bewusst, wie eng Körper, Psyche und Atmung miteinander verbunden sind. So entstand bei mir der Wunsch, eine ganzheitliche Körpertherapie-Ausbildung zu absolvieren. Mir war wichtig, dass sie auf einem soliden Fundament basiert – mit Anatomie, Pathologie, Psychologie und Behandlungslehre. Ich wollte verstehen, wie Atmung im Körper wirkt. In der Atemarbeit gibt es viele verschiedene Richtungen. Besonders angesprochen hat mich die Methode nach Ilse Middendorf, weil sie den Menschen als Ganzes betrachtet und wissenschaftliche Grundlagen miteinbezieht. Anders als beim Yoga oder beim bewussten Atemtraining geht es hier nicht um das gezielte Steuern der Atmung, sondern um Achtsamkeit: den Atem wahrzunehmen, statt ihn zu kontrollieren. Der Körper weiss im Grunde, wie Atmen funktioniert – wir müssen ihm nur wieder Raum geben und die Möglichkeit sich zu entfalten.
«Wer durch den Mund atmet, öffnet gewissermassen die Tür für Erkältungen.»
Sehr viel. Viele Menschen wissen nicht, dass die Nase unsere erste Schutzbarriere gegen Viren ist. Wer durch den Mund atmet, öffnet gewissermassen die Tür für Erkältungen. Eine leise, geräuschlose Nasenatmung wirkt wie ein natürlicher Filter. Gleichzeitig spielt das Zwerchfell eine Schlüsselrolle – es verbindet Lunge, Herz und Verdauungsapparat. Wenn es frei schwingen kann, wird der ganze Organismus besser durchblutet. Eine ruhige, tiefe Atmung kann den Blutdruck senken, Stress mindern und die Verdauung fördern. Selbst chronische Beschwerden wie COPD oder Atemnot lassen sich dadurch oft spürbar lindern. In Gruppen, etwa mit der Lungenliga, erlebe ich immer wieder, wie Menschen mit der Zeit ruhiger und belastbarer werden.
Ja, das kann man. Ich spreche oft von Atemhygiene. Viele Menschen achten auf Handhygiene oder Ernährung, aber kaum jemand auf die „Sauberkeit“ der eigenen Atmung. Wer regelmässig bewusst durch die Nase atmet, stärkt die natürlichen Abwehrmechanismen. Es gibt Patientinnen, die mir sagen, sie seien seit Beginn der Übungen deutlich seltener erkältet.
Viel Zeit im Freien! Studien zeigen: Mindestens zwei Stunden Tageslicht täglich reduzieren das Risiko. Draussen schaut man öfter in die Ferne – das trainiert das Auge. Heute verbringen Kinder viel Zeit im Nahbereich – beim Lesen, am Bildschirm. Das fördert das Augenwachstum und damit das Risiko für Kurzsichtigkeit. Deshalb mein Tipp: raus an die frische Luft. Das stärkt nicht nur die Augen, sondern auch das allgemeine Wohlbefinden.
«Das Ziel ist nie, etwas zu erzwingen, sondern Bedingungen zu schaffen, damit der Atem wieder frei fliessen kann.»
Jede Sitzung ist individuell. Zuerst beobachte ich, wie jemand atmet – flach, tief, schnell oder stockend. Dann arbeiten wir gezielt mit sanften Bewegungen, Dehnungen oder Schüttelübungen, um dem Atem mehr Raum zu geben. Das Ziel ist nie, etwas zu erzwingen, sondern Bedingungen zu schaffen, damit der Atem wieder frei fliessen kann. Übungen wie die Lippenbremse, der sogenannte Kutschersitz oder bewusstes, lautloses Atmen helfen, das Körpergefühl zu schulen. Mit der Zeit entsteht daraus ein neues Bewusstsein: Man spürt, wo Spannung ist – und lernt, sie loszulassen.
Ja, aber anders. Kinder holt man spielerisch ab – etwa mit Blasübungen oder Bewegungsspielen. Erwachsene kommen meist mit konkretem Leidensdruck, Kinder dagegen spüren Atemprobleme seltener bewusst. Für mich ist die Arbeit mit Erwachsenen einfacher, weil sie ihr Körpergefühl oft besser beschreiben können.
«Nicht das Einatmen ist entscheidend, sondern das Ausatmen – das Loslassen.»
Ja, unbedingt. Wer gestresst ist, atmet oft zu schnell und zu flach oder hält den Atem an. Wenn man lernt, den Atemrhythmus zu verlangsamen, stellt sich automatisch Ruhe ein. Ich sage immer: Nicht das Einatmen ist entscheidend, sondern das Ausatmen – das Loslassen. Es geht darum, weniger zu machen. Wir leben in einer Gesellschaft von «Zu-viel-Atmern». Viele glauben, sie hätten zu wenig Luft, dabei atmen sie zu stark. Bewusstes Atmen heisst, in die Reduktion zu gehen, langsamer zu werden, sich selbst wahrzunehmen.
Ja, tatsächlich. Ich habe mit Frauen gearbeitet, die nach einer Brustkrebsdiagnose zur Bestrahlung mussten. Dort ist es wichtig, dass man den Brustraum gut füllen und ruhig atmen kann – so wird weniger gesundes Gewebe mitbestrahlt. Gleichzeitig hilft die Atemtherapie, die innere Anspannung zu lösen und die Angst zu regulieren. Wer ruhig atmet, findet leichter Ruhe – selbst in belastenden Situationen.
«Mehr Raum, mehr Leichtigkeit, mehr Leben»
Die meisten kommen erst, wenn sie schon Beschwerden haben – etwa Atemnot, Hyperventilation, Stress oder Erschöpfung. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen früher kommen, einfach aus Neugier oder zur Prävention. Wer einmal spürt, wie sich der Körper verändert, wenn der Atem frei wird, bleibt meist dabei.
Ja, die Geschichte eines Patienten mit einer schweren Lungenerkrankung. Er nahm an einer Gruppentherapie teil und sagte einmal: «Frau Mathei, wenn ich zu Ihnen in die Atemgruppe komme, fühlt sich meine Lunge an wie eine Einzimmerwohnung – und am Ende der Sitzung wie ein grosser Tanzsaal.» Dieses Bild fand ich unglaublich schön. Es zeigt, was Atemtherapie bewirken kann: mehr Raum, mehr Leichtigkeit, mehr Leben.
Die Lippenbremse
Durch die Nase geräuschlos einatmen, dann langsam durch leicht geschlossene Lippen ausatmen – als würde man eine Kerze zum Flackern bringen, ohne sie auszublasen. Beruhigt die Atmung und hilft bei Atemnot.
Der Kutschersitz
Aufrecht sitzen, Füsse flach auf dem Boden, Hände Ellbogen locker auf die Oberschenkel legen, Hände und Schultern fallen lassen. Den Bauch und den Kiefer entspannen und den Atem einfach kommen lassen.
Lautlos atmen
Mund schliessen und durch die Nase atmen – so leise, dass kein Geräusch entsteht. Diese einfache Übung stärkt die Nasenatmung und beruhigt den Geist.
Atmen bis zu den Füssen
Füsse bewusst spüren, während man atmet, und sich vorstellen, wie der Ausatem bis in die Füsse fliesst. Hilft, den Körper zu erden und Stress abzubauen.
Lockeres Schütteln
Locker stehen, Arme und Beine wippend ausschütteln, sanft den Oberkörper bewegen. Dabei natürlich, evt. stossweise und geräuschaft ausatmen und die Spannung aus dem Körper lösen.
Verlängertes Ausatmen
Langsam einatmen und doppelt so lange ausatmen – zum Beispiel vier Sekunden ein, acht Sekunden aus. Ideal, um den Parasympathikus zu aktivieren und innere Ruhe zu fördern.